- Ungarn: Vom Reformsozialismus zu Demokratie und Marktwirtschaft
- Ungarn: Vom Reformsozialismus zu Demokratie und MarktwirtschaftDas Ende der Ära KádárEnde der Siebzigerjahre offenbarten sich in der Ungarischen Volksrepublik, die seit den politischen Liberalisierungsmaßnahmen und wirtschaftlichen Reformen der Sechzigerjahre oftmals als Land des »Gulaschkommunismus« bezeichnet wurde, zunehmende ökonomische Probleme. Um jedoch an der Politik des steigenden Lebensniveaus, mit der sich die kommunistische Führung unter Parteichef János Kádár jahrzehntelang die Loyalität der Bevölkerung erkauft hatte, festhalten zu können, versuchte die Regierung in den Achtzigerjahren, die mangelhafte Produktivität der Planwirtschaft durch verlockend günstige Kredite aus dem Westen zu kompensieren. Diese Politik leitete einen rasanten Verschuldungsprozess ein, der 1984/85 bedrohliche Ausmaße annahm.Als die Vorgaben für ein wirtschaftliches Dynamisierungsprogramm nicht erfüllt werden konnten, geriet der Kádár-Zirkel an der Spitze der kommunistischen Ungarischen Sozialistischen Arbeiterpartei (MSzMP) mehr und mehr unter öffentliche Kritik. Im Juni 1987 publizierten der Partei angehörende Reformökonomen, die von den Politikern Imre Pozsgay und Rezső Nyers protegiert wurden, die Studie »Wende und Reform«. Ihre Krisenanalyse führte zu dem Schluss, dass die Wirtschaftsordnung nach dem Prinzip des sich selbst regulierenden Marktes radikal verändert, die Bevölkerung aktiv in das Wirtschaftsleben einbezogen und die Macht der Partei begrenzt werden müsse. Im selben Monat des Jahres forderten Mitglieder der radikalliberalen Gruppierung Demokratische Opposition in ihrer illegalen, nicht zur Genehmigung vorgelegten Publikation »Gesellschaftsvertrag« den Rücktritt von Parteichef Kádár. Kurze Zeit später legte auch die Parteiführung eine Konzeption zur Überwindung der Wirtschaftskrise und der Schuldenfalle vor. Ihr Programm der wirtschaftlich-gesellschaftlichen Entfaltung, das unter der Federführung des jungen Parteiökonomen Miklós Németh ausgearbeitet worden war, sah eine radikale Sparpolitik, die Ankurbelung der Westexporte, das Ende der Vollbeschäftigungspolitik sowie einen grundlegenden Umbau der Wirtschaftsordnung vor. Wie in der Studie »Wende und Reform« gefordert, sollten die ökonomischen Prozesse in Zukunft im Wesentlichen durch den Markt koordiniert werden. Die Annahme dieses Programms, das mit Rücksicht auf Parteichef Kádár und seine »alte Garde« in ein betont sozialistisches Vokabular gehüllt war, bedeutete trotz des Festhaltens an der »Dominanz des gesellschaftlichen Eigentums« einen ersten grundlegenden Schritt in Richtung auf eine Transformation des Wirtschaftssystems.»Sozialistischer Pluralismus« unter Károly GrószAls Mitte 1987 Károly Grósz Ministerpräsident wurde, geriet auch das politische System in Bewegung. Unter Grósz bildete sich ein neues Selbstverständnis der Regierung heraus. Der Ministerrat spielte seitdem nicht mehr die Rolle eines willfährigen Handlangers der Partei, sondern bemühte sich zunehmend um eine selbstständige Umsetzung der politischen Grundsatzbeschlüsse. Gleichzeitig initiierte Grósz auch eine Stärkung der Gesetzgebungskompetenz des Parlaments, das zuvor eine völlig untergeordnete Rolle gespielt hatte. Anfang 1988 beschloss die politische Führung darüber hinaus, nach Jahrzehnten des paternalistischen Bevormundungs- und Fürsorgestaats die politischen Rechte der Bevölkerung zu erweitern sowie Vereinigungen und Versammlungen im Rahmen des Einparteiensystems zuzulassen. Ermöglicht wurden diese Schritte durch die Politik des sowjetischen KP-Chefs Gorbatschow, der den »sozialistischen Bruderländern« nun einen »eigenen Weg zum Sozialismus« eingeräumt hatte. In diesen Monaten offenbarte sich allerdings, dass die geplanten Veränderungen unter dem 76-jährigen altersstarren Kádár nicht zu verwirklichen waren. Allen Symptomen zum Trotz leugnete der Parteichef jegliche Krise. Sein Ansehen als liberaler Reformer von einst begann schnell zu verblassen.Um die personellen Fragen zu klären und die geplanten Kursänderungen in Richtung auf »sozialistischen Pluralismus« und »sozialistische Marktwirtschaft« zu bekräftigen, initiierten die radikalen Kräfte um Ministerpräsident Grósz für Mai 1988 eine Parteikonferenz. In deren dramatischem Verlauf sah sich Kádár schließlich gezwungen, sein Amt als Generalsekretär der Partei an Grósz abzutreten. Kádár konnte jetzt auch die völlige Entmachtung der »alten Garde« im Politbüro nicht mehr verhindern. In das oberste Parteigremium gelangten neben mehreren Gefolgsleuten des Regierungs- und nunmehrigen Parteichefs auch drei Politiker, die den weiteren Lauf der Ereignisse maßgeblich beeinflussen sollten: Rezső Nyers, Miklós Né meth und Imre Pozsgay.Innenpolitisch löste die Propagierung des »sozialistischen Pluralismus« und die Diskussion über das geplante Vereinigungs- und Versammlungsgesetz in den Sommer- und Herbstmonaten des Jahres 1988 einen dynamischen Pluralisierungsprozess aus. Es kam zu mehreren Massendemonstrationen — so etwa gegen die Unterdrückung der ungarischen Minderheit in Rumänien. Auch zirkulierte nun eine Vielzahl parteiunabhängiger Publikationen, und es kam zur Gründung unabhängiger Gewerkschaften sowie zahlloser gesellschaftlicher Vereinigungen. Von besonderer Bedeutung war damals, dass jetzt auch politische Organisationen entstanden oder mit ihren Forderungen an die Öffentlichkeit traten. Das Ungarische Demokratische Forum (MDF), das bereits 1987 unter dem Schirm der Patriotischen Volksfront ins Leben gerufen worden war, profilierte sich nun verstärkt als Organisation der konservativ-nationalen Opposition. Die »aufsässige Jugend«, die Anfang 1988 den illegalen Bund der Jungen Demokraten (FIDESz) gebildet hatte, machte mit provokanten Aktionen auf sich aufmerksam, und die liberal-urbanen »Andersdenkenden« organisierten sich im Bund der Freien Demokraten (SzDSz). Im November 1988 reaktivierten sich außerdem die Parteien aus der Zeit vor 1948/49, so die Partei der unabhängigen Kleinlandwirte (FKGP), die Ungarische Sozialdemokratische Partei (MSzDP) und die Christlich-Demokratische Volkspartei (KDNP).Auf dem Weg zum politischen SystemwechselGegenüber diesen Bewegungen, die offen und ungeschminkt bürgerliche Zielsetzungen propagierten, verfolgte die Parteiführung eine widersprüchliche Politik. So verweigerte sie der Opposition einerseits die offizielle Anerkennung und hielt am »sozialistischen Pluralismus« innerhalb des Einparteiensystems fest, ergriff aber andererseits mit Rücksicht auf die internationale Öffentlichkeit und auf westliche Kreditgeber keine polizeistaatlichen Maßnahmen mehr. Im Zentralkomitee der MSzMP forderten nun erstmals auch einzelne Politiker, darunter Rezső Nyers, Imre Pozsgay, Gyula Horn, damals Staatssekretär im Außenministerium, und Akademiepräsident Iván Berend, die Opposition zu legalisieren, also ein Mehrparteiensystem offiziell zuzulassen. In der Wirtschaftspolitik stand die Diskussion um die Verabschiedung des »Gesetzes über die Wirtschaftsgesellschaften« im Mittelpunkt, das zum Jahresanfang 1989 die Bildung von kapitalistischen Unternehmensformen wie Aktiengesellschaften und Gesellschaften mit beschränkter Haftung erlaubte. Vor einem konsequenten Abbau der Produktions- und Verbrauchersubventionen schreckte Grósz trotz des anwachsenden Schuldenbergs allerdings zurück. In dieser innen- wie wirtschaftspolitisch gespannten Lage übernahm Miklós Németh Ende November 1988 die Regierungsgeschäfte. Der neue Ministerpräsident, der anfangs als ein »Mann von Grósz« galt, gab sehr schnell seine Bereitschaft zu erkennen, über die liberalen Wirtschaftsreformen hinausgehend in Ungarn auch radikale politische Veränderungen einzuleiten. So beschloss man nicht nur weitere, in Richtung Marktwirtschaft weisende Maßnahmen, sondern bereitete auch die Einführung eines Verfassungsgerichts und des Rechts zur Volksabstimmung vor. Außerdem wurden das Versammlungs- und Vereinigungsgesetz verabschiedet. Letzteres sah auch die Möglichkeit der Bildung von Parteien vor. Deren offizielle Legalisierung sollte allerdings bis zur Schaffung eines Parteiengesetzes zurückgestellt werden.Die regierende Staatspartei, die sich in der Frage des Parteienpluralismus und wegen ideologisch orthodoxer Äußerungen von Parteichef Grósz zunehmend polarisiert hatte, geriet Ende Januar 1989 an den Rand einer Spaltung. Nachdem eine Kommission des Zentralkomitees unter der Leitung von Iván Berend zu dem Ergebnis gekommen war, dass es sich bei den Geschehnissen vom Herbst 1956 nicht um eine »Konterrevolution«, sondern um einen »Volksaufstand« und »nationalen Unabhängigkeitskampf« gehandelt habe, verkündete Imre Pozsgay diese Neuinterpretation ohne Rücksprache mit der Parteiführung. Seine Erklärung erschütterte das ideologische Fundament der Partei schwer und löste heftige Debatten aus.Um den Zerfall der Partei zu verhindern, ließ Generalsekretär Grósz Mitte Februar das Zentralkomitee einberufen. Hier wurde in der »56er-Frage« mit der Formulierung »Volksaufstand, der in eine Konterrevolution umgeschlagen ist« ein Kompromiss gefunden. Darüber hinaus rangen sich die konservativen Kräfte nun auch dazu durch, der Einführung eines Mehrparteiensystems grundsätzlich zuzustimmen. Wie sich schnell zeigte, war die Parteieinheit damit aber keineswegs wieder hergestellt. Innerhalb der MSzMP bestanden nämlich sehr unterschiedliche Auffassungen über die Beschaffenheit des zukünftigen Mehrparteiensystems und über das Tempo seiner Legalisierung. Während die Konservativen den Übergang möglichst lange verzögern, ihre Macht unter allen Umständen erhalten und nur »dem Sozialismus verpflichtete« Parteien zulassen wollten, forderten die progressiven Kräfte um Pozsgay, Nyers und Németh baldige freie Wahlen und ein unbeschränktes Mehrparteiensystem. Radikale politische Veränderungen befürwortete auch das Justizministerium unter Kálmán Kulcsár. Seine Konzeption für eine neue ungarische Verfassung basierte auf den Grundsätzen der Rechtsstaatlichkeit, Gewaltenteilung, des Parlamentarismus und der Marktwirtschaft. Im Februar/März 1989 wurde diese Konzeption von der Parteiführung und vom Parlament angenommen.Die parteiinterne Durchsetzung der TransformerNachdem damit die grundlegenden Beschlüsse zur Transformation des politischen Systems gefallen waren, hing ihre Verwirklichung in erster Linie von den Kräfteverhältnissen in der ehemals kommunistischen MSzMP ab. Bereits Mitte Februar 1989 hatten parteiinterne Transformer und Intellektuelle auf Initiative von Imre Pozsgay hin insgeheim begonnen, ihre Kräfte zu sammeln. Am 15. März 1989 propagierten sie während der Feierlichkeiten zum Gedenken an die Revolution von 1848 den konsequenten Übergang zur Marktwirtschaft und parlamentarischen Demokratie. Parallel zu den Aktivitäten von oben traten im Frühjahr 1989 an der Parteibasis Reformzirkel auf. Diese Basisbewegung, die ebenfalls einen umfassenden Systemwechsel befürwortete, gewann schnell an Stärke. Im Mai desselben Jahres demonstrierte sie im südungarischen Szeged zusammen mit den Radikalreformern in der Parteispitze ihre wachsende Kraft und legte ihre an der Sozialdemokratie orientierten politischen Positionen offen.Das offensive Auftreten der parteiinternen Transformer zeigte bald Früchte: Nachdem es bereits im April 1989 gelungen war, mehrere konservative Politiker, darunter auch den Ideologen János Berecz, aus dem Politbüro zu drängen, gingen die Transformer drei Monate später aus einer radikalen Umbildung der Parteiführung als klare Sieger hervor. Die oberste Parteiführung oblag seitdem nicht mehr dem Generalsekretär, sondern lag nun in Händen eines vierköpfigen Präsidiums, dem der ehemalige Ministerpräsident Grósz sowie Nyers, Pozsgay und Németh angehörten. An die Stelle des Politbüros trat ein von den neuen politischen Kräften dominierter Verwaltungsausschuss.Das »Expertenkabinett« von Ministerpräsident NémethIm Zuge des Sieges der Transformer gelang es dem Ministerpräsidenten Németh, die konservativen Mitglieder seines Kabinetts durch jüngere, dem Transformationsprozess aufgeschlossen gegenüberstehende Persönlichkeiten zu ersetzen. So übernahm Gyula Horn nun das Außenministerium, der Ökonom László Békesi das Finanz- und der Historiker Ferenc Glatz das Kultusressort. Zusammen mit den weiter amtierenden Ministern, darunter Kálmán Kulcsár (Justiz), István Horváth (Inneres) und Judit Csehák (Soziales) bildeten sie ein Expertenkabinett, das immer entschiedener in politischer Eigenregie agieren konnte, weil die gewandelte MSzMP im Mai 1989 endgültig auf ihre privilegierte Stellung in Staat und Gesellschaft verzichtet hatte.Wirtschaftspolitisch bemühte sich Németh in seiner Amtszeit darum, durch einschneidende Sparmaßnahmen den Staatshaushalt zu sanieren. Er verfügte die Einstellung des Kraftwerksprojekts bei Nagymaros (Nordungarn), kürzte die Militärausgaben, hob die Energiepreise an und leitete Konkursverfahren gegen bankrotte Großbetriebe ein. Den ökonomischen Systemwechsel führte er mit Gesetzen fort, die der Umwandlung von Staatsbetrieben und Genossenschaften in kapitalistische Wirtschaftsgesellschaften dienten. Zur Vorbereitung des politischen Systemwechsels ließ die Regierung mehrere Gesetzesvorlagen ausarbeiten. Hierzu zählten unter anderem die Entwürfe des Wahl-, Volksabstimmungs- und Parteiengesetzes. Abgesehen vom Referendumsgesetz wurden diese Transformationsgesetze allerdings nicht verabschiedet, sondern bis zum Abschluss der für Sommer 1989 geplanten Ausgleichsverhandlungen mit der Opposition zurückgestellt. Von besonderer politischer Aussagekraft war außerdem, dass die Regierung im Juni an der feierlichen Wiederbestattung des 1958 hingerichteten ungarischen Ministerpräsidenten Imre Nagy teilnahm und die »Konterrevolutionäre« von einst rehabilitierte. Im Bereich der Kultur- und Bildungspolitik wurde Russisch als obligatorisches Schulfach abgeschafft. Überhaupt löste man die sowjetisch geprägten Strukturen auf und setzte eine Entideologisierung des Unterrichtswesens durch. Ferner wurde ein Ausgleich mit den Kirchen initiiert, jegliche Zensur beendet und vieles andere mehr in Angriff genommen — Maßnahmen allemal, die als eine Art kultureller Reeuropäisierung des Landes galten.Im Außenressort bemühte sich Gyula Horn erfolgreich um den Abbau der sowjetischen Truppenpräsenz und setzte sich für die konsequente Fortsetzung der Entspannungspolitik ein. Darüber hinaus erreichte er eine Normalisierung des lange gespannten Verhältnisses zum Vatikan und zu Israel. Der Besuch des amerikanischen Präsidenten George Bush im Juli 1989 verdeutlichte, welch großes internationales Ansehen Ungarn durch seine Diplomatie und Politik inzwischen errungen hatte.Die Öffnung der ungarischen GrenzeDie spektakulärste Maßnahme während der Amtszeit von Ministerpräsident Németh war sicherlich die Öffnung der ungarischen Grenze für DDR-Flüchtlinge am 10./11. September 1989. Die Vorgeschichte dazu begann bereits im Oktober 1987: Damals empfahl das Oberkommando der ungarischen Grenztruppen in einem geheimen Bericht, den wenig effektiven und innenpolitisch angesichts der Reisefreiheit der Ungarn bedeutungslosen Eisernen Vorhang an der österreichischen Grenze abzubauen. Weil sich das Kádár-Regime derart radikalen Maßnahmen versperrte, wurde dieses Vorhaben erst Ende 1988/Anfang 1989 neuerlich aufgegriffen. Da mit einem sowjetischen Eingreifen nicht mehr zu rechnen war, beschloss das Politbüro, den Eisernen Vorhang abtragen zu lassen. Die Abbauarbeiten, die am 2. Mai begannen, schritten schnell fort. Als sich Außenminister Horn und sein österreichischer Amtskollege Alois Mock im Juni 1989 zum »historischen Drahtdurchschneiden« an der Grenze trafen, war der Eiserne Vorhang bereits größtenteils beseitigt. Die Demontage hatte fortan bedeutende Konsequenzen. Denn in den Sommerwochen versuchten nun Tausende von DDR-Bürgern über Ungarn in den Westen zu gelangen. Die Entscheidung, die DDR-Bürger nur zurückzuhalten, ohne von der Schusswaffe Gebrauch zu machen, und sie nicht mehr in die DDR zurückzuschicken, verschärfte die äußerst prekäre Situation an der Grenze noch zusätzlich. Schließlich blieb der ungarischen Führung, die mit einer groß angelegten Deportationsaktion ihren Ruf ruiniert hätte, keine andere Möglichkeit mehr, als die Grenzen zu öffnen. So viel stand schon vorher fest: Eine scharfe Reaktion hatte sie nur von der DDR, der Tschechoslowakei und von Rumänien zu erwarten — Moskau aber schwieg.Die Institutionalisierung der neuen politischen OrdnungWährenddessen fand in Budapest ein anderes bedeutendes Ereignis statt — gemeint sind die Ausgleichsgespräche zwischen den Machthabern, den Massenorganisationen und dem Oppositionellen Runden Tisch, zu dem sich neun wichtige Parteien und Organisationen zusammengeschlossen hatten. Nach fünfmonatigen Vorverhandlungen des zuletzt erfolgreichen Kampfes der Opposition um ihre Gleichberechtigung trat Mitte Juni 1989 erstmals der Nationale Runde Tisch zusammen. Da die grundsätzlichen Entscheidungen zugunsten einer parlamentarischen Demokratie bereits gefallen waren und sich die Herrschenden mittlerweile für baldige freie Wahlen ausgesprochen hatten, ging es bei den Gesprächen vor allem um die konkrete institutionelle Ausgestaltung der politischen Ordnung und um die Modalitäten der ersten freien Parlamentswahlen. Dabei waren alle drei Seiten bestrebt, Regelungen durchzusetzen, die sich auf ihre zukünftige politische Stellung günstig auswirken konnten. Besonders kontrovers wurde die Zukunft des Parteivermögens und der Arbeitermiliz, der Zeitpunkt und Modus der Präsidentschaftswahlen sowie die Präsenz von Parteiverbänden am Arbeitsplatz erörtert.Nach Abschluss der Beratungen des Nationalen Runden Tisches im September konnten die Teilnehmer Vereinbarungen aushandeln, in deren Mittelpunkt radikale Verfassungsänderungen, die Reform des Strafrechts sowie die Bestimmungen der Wahl-, Parteien- und Mediengesetze standen. Allerdings hatten die liberalen Parteien (SzDSz und FIDESz) die Unterzeichnung verweigert. Sie beanstandeten, dass in den besonders strittigen Punkten keine Einigung erzielt worden war. Trotz dieses »Schönheitsfehlers« bildeten die Gesprächsergebnisse schließlich die Grundlage für eine demokratische Totalrevision der Verfassung und für die angesprochenen Gesetze. Den demonstrativen Schlussakt dieser Entwicklungen bildete die Ausrufung der Republik Ungarn am 23. Oktober 1989, dem Jahrestag des Volksaufstandes von 1956. Bereits zwei Wochen zuvor hatte sich die ehemalige Staatspartei als erste der im Ostblock herrschenden kommunistischen Parteien selbst aufgelöst. Als juristische, nicht aber als politische Nachfolgeorganisation wurde die Ungarische Sozialistische Partei (MSzP) gegründet. Dieser gelang es zwar, einen radikalen Bruch mit der Organisation und Politik ihrer Vorgängerin zu vollziehen. Doch tat sie sich schwer, ein überzeugendes Programm zu erarbeiten und effektive Organisations- und Führungsstrukturen zu schaffen.Nach der staatsrechtlichen Grundlegung des neuen politischen Systems wurden noch unter der Regie der nunmehr parteilosen Regierung Németh die Parlamentswahlen vorbereitet und ein Verfassungsgericht ins Leben gerufen. Die Absicht der Regierung, mittels einer Direktwahl vor den Parlamentswahlen ihren populären Kandidaten Imre Pozsgay zum Staatspräsidenten zu machen, vereitelte eine von der liberalen Opposition angestrengte Volksabstimmung. Im Frühjahr 1990 fanden in Ungarn die ersten freien Wahlen zur Nationalversammlung seit 1945 statt. Aus diesen gingen die beiden profiliertesten Oppositionsbewegungen, das nationalkonservative Ungarische Demokratische Forum (MDF) und der liberale Bund Freier Demokraten (SzDSz), als Sieger hervor. Mandate errangen auch die Kleinlandwirte, die Sozialistische Partei (MSzP), die Jungliberalen (FIDESz) und die Christdemokraten (KDNP). Ultralinke und rechtsextreme Organisationen sowie die völlig zerstrittenen Sozialdemokraten scheiterten an der Vierprozenthürde. Der Wahlsieg der einstigen Regimegegner spiegelte in erster Linie das Verlangen der Bevölkerung nach einem Elitenwechsel und nach besseren Tagen unter bürgerlichem Vorzeichen wider. Den Sozialisten war es nicht gelungen, ihren schlechten Ruf als Nachfolgepartei der Kommunisten abzuschütteln. Zudem war ihr politischer Kredit Anfang 1990 durch die Dunagate-Affäre schwer erschüttert worden. Damals war bekannt geworden, dass die Staatssicherheit die vormalige Opposition bespitzelt hatte.Die Politik der national-konservativen KoalitionDie Koalition von Demokratischem Forum, Kleinlandwirten und Christdemokraten unter Führung von Ministerpräsident József Antall, die sich bereits im Wahlkampf abgezeichnet hatte, versuchte seit Mai 1990, das neue politische System zu festigen und den Umbau der Wirtschaftsordnung voranzutreiben. Eine Vereinbarung mit den Freien Demokraten stattete die Exekutive mit besonderen Kompetenzen aus und sicherte dem Liberalen Árpád Göncz das Präsidentenamt. Einer der ersten innenpolitischen Schritte der Regierung Antall war die Verabschiedung des ganz auf Dezentralisierung angelegten Gesetzes über die kommunale Selbstverwaltung. Bei den Kommunalwahlen im Herbst 1990 erlitt die Koalition allerdings eine herbe Niederlage. In den Städten siegten die Liberalen, auf dem Land zu 80 Prozent unabhängige Kandidaten, die früher zumeist Funktionäre der MSzMP gewesen waren. Konfrontiert wurde die Regierung Antall im Oktober 1990 außerdem mit einer landesweiten Protestaktion gegen drastische Benzinpreiserhöhungen (»Taxiblockade«). Gegen rechtsradikale Tendenzen, oft auch innerhalb der eigenen Koalition, trat Ministerpräsident Antall nur zögerlich auf. Sein Bemühen, die meist oppositionell orientierten Medien stärker zu kontrollieren, führte zu einer Polarisierung der Öffentlichkeit (»Medienkrieg«) und fügte dem Ansehen der Regierung weiteren Schaden zu.Wirtschaftspolitisch vertrat die Regierung das Konzept einer langsamen, staatlich kontrollierten Privatisierung und hielt am System einer ausgeprägten sozialen Unterstützung fest. Während der anderthalb Jahre anhaltenden Privatisierungsdebatte bestand sie — trotz der Reprivatisierungsbestrebungen der Kleinlandwirte — auf einer wertmäßigen Teilentschädigung für einst verstaatlichtes Eigentum mittels Gutscheinen und konnte sich nach einem Kompro- miss bezüglich der Landwirtschaft (dort faktisch Rückerstattung) auch tatsächlich durchsetzen. Die Anziehungskraft Ungarns für ausländisches Kapital wurde durch diese Debatte freilich nur geringfügig geschmälert.In der Außenpolitik konzentrierte sich die Regierung zuerst auf die Abwicklung des sowjetischen Truppenabzugs, den noch Außenminister Horn mit Moskau ausgehandelt hatte, sowie auf den Ausstieg aus dem Warschauer Pakt. Außerdem versuchte sie, jedoch ohne großen Erfolg, eine Zusammenarbeit der Visegrád-Staaten (Ungarn, Polen, Tschechoslowakei) zu erreichen. Im Hinblick auf die Westintegration des Landes gelang es der Regierung, ein Assoziierungsabkommen mit der Europäischen Union (EU) abzuschließen und sich der NATO anzunähern. Am 8. Februar 1994 trat Ungarn dem NATO-Programm »Partnerschaft für den Frieden« bei und stellte am 1. April desselben Jahres den Antrag auf Vollmitgliedschaft in der EU. Trotz des Zusammenschrumpfens der Regierungsmehrheit auf eine Stimme, hervorgerufen durch die Spaltung der Partei der Kleinlandwirte und einer starken Abwanderung von MDF-Abgeordneten, und trotz des Todes des Ministerpräsidenten im Dezember 1993 vollendete die Koalition unter Péter Boross die Legislaturperiode.Die Rückkehr der SozialistenNach vier Jahren national-konservativer Regierung errang die Ungarische Sozialistische Partei bei den Parlamentswahlen im Mai 1994 mit der absoluten Mehrheit der Mandate einen sensationellen Wahlsieg. Der Grund für diesen Erfolg lag in erster Linie in der Enttäuschung der Wähler über die anhaltend schwierigen Lebensverhältnisse sowie über das teils arrogante, teils amateurhafte Auftreten der unerfahrenen bürgerlichen Politiker. Die Sozialisten hingegen hatten sich überzeugend als sozialdemokratische Alternative verkaufen können. Die Tatsache, dass sie trotz ihrer absoluten Mehrheit eine »Koalition von Feuer und Wasser« mit dem Bund Freier Demokraten eingingen, war nicht zuletzt auf westliche Erwartungen und westlichen Druck zurückzuführen. In der Wirtschaftspolitik verfolgte die Regierung von Ministerpräsident Gyula Horn mit einer Serie von schmerzlichen Preiserhöhungen und dem Abbau sozialstaatlicher Leistungen einen radikalen, neoliberalen Sparkurs, der im klaren Widerspruch zu den Wahlversprechungen der Partei stand. Der Privatisierungsprozess wurde nun wesentlich beschleunigt, allerdings begleitet von Skandalen über die Verschleuderung öffentlicher Gelder. Außenpolitisch war die Regierung trotz der hinhaltenden und vertröstenden Politik des Westens besonders um eine schnelle Integration in die EU und in die NATO bemüht (Beitritt März 1999). Darüber hinaus suchte sie die Aussöhnung mit Ländern, in denen starke ungarische Minderheiten leben. Im Hinblick auf die Innenpolitik wurde die Regierung aufgrund des rapiden Anwachsens der organisierten Kriminalität und der ineffektiven Polizeiarbeit vor große Herausforderungen gestellt. Trotz der genannten negativen Erscheinungen befand sich Ungarn Mitte der Neunzigerjahre auf einem Erfolg versprechenden Weg im Zeichen der europäisch-atlantischen Integration und der Konsolidierung des Systemwechsels.Dr. Andreas Schmidt-SchweizerGrundlegende Informationen finden Sie unter:Sowjetunion: Die UdSSR und der OstblockUngarn: Monarchie ohne MonarchenDalos, György: Ungarn - vom roten Stern zur Stephanskrone. Aus dem Ungarischen. Frankfurt am Main 1997.Kulcsár, Kálmán: Systemwechsel in Ungarn 1988-1990. Analysen und Erinnerungen des damaligen ungarischen Justizministers. Aus dem Ungarischen. Neuausgabe Frankfurt am Main 1997.Länderberichte Polen, Ungarn, Tschechische Republik, Slowakische Republik, herausgegeben von der Deutschen Investitions- und Entwicklungsgesellschaft mbH. Köln 21995.Pállinger, Zoltán Tibor: Die politische Elite Ungarns im Systemwechsel 1985-1995. Bern u. a. 1997.Parteienlandschaften in Osteuropa. Politik, Parteien und Transformation in Ungarn, Polen, der Tschecho-Slowakei und Bulgarien 1989-1992, herausgegeben von Magarditsch A. Hatschikjan und Peter R. Weilemann. Paderborn u. a. 1994.
Universal-Lexikon. 2012.